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87. Jahrestages der Verschleppung der Berliner Sinti und Roma in das NS-Zwangslager Marzahn: Die Vergangenheit bleibt aktuell, das Gedenken ein Auftrag

Mit einer Gedenkstunde erinnerten am 11. Juni 2023 die Gedenkstätte Zwangslager Berlin-Marzahn e.V. und der Landesverband Deutscher Sinti und Roma e.V. an die vor 87 Jahren, im Jahr 1936 in das NS-Zwangslager verschleppten Berliner Sinti und Roma.

Zum gemeinsamen Gedenken versammelten sich rund 130 Akteure aus Politik, Verbänden, Zivilgesellschaft und Angehörige von Überlebenden. In Grußworten und Gedenkreden wurde der internierten Sinti und Roma gedacht, und eindringlich vor den Kontinuitäten rassistischer Ausgrenzung in der Gegenwart gewarnt.

Es sprachen Nadja Zivkovic, Bezirksbürgermeisterin von Marzahn-Hellersdorf, Dr. Mehmet Daimagüler, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus, Dr. Klaus Lederer, Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin, sowie Petra Rosenberg, die Vorsitzende der Gedenkstätte Zwangslager Berlin-Marzahn und des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg. Die Gedenkrede hielt in diesem Jahr Deborah Hartmann, die Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.

In Ihrer Ansprache zu Beginn der Veranstaltung stellte Petra Rosenberg klar: „Das Sterben begann nicht erst in den Vernichtungslagern. Für die Berliner Sinti und Roma begann es hier in Marzahn.“ Sie verwies auf die fortgesetzte Verfolgungsgeschichte, die nach 1945 von mangelnder Aufarbeitung des Völkermords an den Sinti und Roma und fehlender Aufmerksamkeit für ihre Leidensgeschichte geprägt war. Gleichzeitig rückte sie die anhaltende rassistische Diskriminierung von Sinti und Roma in den Fokus. Dabei bezog sie sich insbesondere auf die verheerende Lage fliehender Roma aus osteuropäischen und ehemaligen jugoslawischen Staaten: „Sie erwartet stets die Gefahr doppelter Diskriminierung. Auch in Polen und der Ukraine selbst werden sie schikaniert, diskriminiert und an Grenzen festgesetzt. Eine gemeinsame europäische Tradition möchte man fast sagen.“ Für sie sei dies eine fortgesetzte Entrechtung – ungeachtet der Tatsache, dass es sich um Nachkommen von Überlebenden der NS-Verfolgung handele.

Dr. Mehmet Daimagüler interpretierte in seiner Rede die Kontinuität rassistischer Diskriminierung als politischen Handlungsauftrag im Angesicht geplanter Abschiebungen von Roma in vermeintlich sichere Herkunftsstaaten: „Wenn wir es ernst meinen mit Begriffen wie Vergangenheitsbewältigung, müssen wir damit anfangen, unsere Gegenwart zu bewältigen. Wir brauchen ein sofortiges Abschiebemoratorium für Sinti und Roma.“ Diese Forderung bekräftigte der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus mit Hinblick auf mögliche Abschiebungen von Roma nach Moldawien in einer Presseerklärung am folgenden Tag.

Auch Dr. Klaus Lederer griff die gegenwärtig geführten Debatten um den tags zuvor beschlossenen EU-Migrationspakt auf und verwies auf die „antiziganistische“ Tradition, in der die europäische Grenzpolitik bis heute stünde. Diese beschrieb er als selektiv und rassistisch: „Grenzen sind nicht neutral. Die einen können und dürfen sie überwinden, die anderen eben nicht. Da ist die aufgrund von Art. 1 Grundgesetz unantastbare Menschenwürde dann sehr schnell antastbar: Es gibt sie als Menschenwürde erster und zweiter Klasse […], so wird Sinti und Roma, die von Verfolgung und Diskriminierung in Ländern jenseits der Europäischen Union betroffen sind, das Tor zu Europa endgültig verschlossen sein.“

Bezirksbürgermeisterin Nadja Zivkovic stellte den bitteren Zynismus der Nationalsozialisten heraus, die dem Ort des Unrechts gegen die Berliner Sinti und Roma einst die Bezeichnung „Rastplatz“ gegeben hatten: „Schlimmste hygienische Bedingungen, Hunger, ständige Überwachung und willkürlichste Ausgangssperren, tägliche Demütigungen und Ausbeutung wurden zu ständigen Begleitern aller Menschen, die zwangsweise hier festgehalten wurden.“  Dem sich darin ausdrückenden Schrecken setzte sie das Gedicht „die sonnenblume“ der österreichischen Romni Ceija Stojka, einer Überlebenden mehrerer Konzentrationslager, als würdiges Erinnern entgegen.

Zuletzt eröffnete Deborah Hartmann eine gemeinsame und solidarische Perspektive des Erinnerns, die Sinti und Roma ebenso umfasst, wie Jüdinnen und Juden. Vor dem Hintergrund der Verfolgungsgeschichte ihrer eigenen Familie und der des Vaters der Vorsitzenden Petra Rosenberg, dem Auschwitz-Überlebenden Otto Rosenberg, formulierte sie einen gemeinsamen Auftrag für Gegenwart und Zukunft: „Diese Erinnerungen, die Erfahrungen und Perspektiven von Betroffenen sind es, die uns heute verbinden. Sie sollten für uns zu einem Impuls der Stärke werden. Die Vergangenheit ist nicht vergangen.“

In diesem Zusammenhang erwähnte sie auch die anstehende Bewerbung Berlins um die Austragung der Olympischen Spiele 2036.
Genau Hundert Jahre nach jenen Olympischen Spielen 1936, die zum Anlass genommen wurden, die Berliner Sinti und Roma gewaltsam aus dem Stadtbild zu verbannen, soll Berlin wieder olympisch werden. Was bei diesem Gedanken bisher fehlt? Ein Bewusstsein dafür, welche Verbrechen 1936 in Berlin, im Zwangslager Marzahn, an den Berliner Sinti und Roma verübt wurden.

Die Vergangenheit bleibt aktuell, das Gedenken ein Auftrag.













Fotos: © Jonathan Guggenberger

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